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Auch eine Liebeserklärung

Auch eine Liebeserklärung

Nach einer Pause fuhr Bella leise fort: „Hoffentlich wird sie meinen Tod besser überwinden.“
„Ihren Tod? Was meinen Sie damit?“
„Ich hab’ das doch schon mehrmals angedeutet. Ich glaube, dass ich nicht mehr lange leben werde, keine fünf Jahre mehr … Ich habe das Gefühl.
Mein Onkel hat das bestimmt auch geahnt. Manche Menschen sehen voraus, dass sie bald sterben.“
„Aber Bella! Sie sind doch noch vor kurzem gründlich untersucht worden, sowohl bei mir in der Praxis, als auch bei dem Kollegen Sonnemann.
Landschaften flogen am Busfenster vorbei, Bäume und Wiesen, weiße Flachbauten und kleine Ziegelhäuschen traten kurz aus dem Nebel hervor, um sogleich wieder von ihm verschluckt zu werden.
„Hoffentlich wird da oben das Wetter besser“, murmelte Katharina leise und fragte sich wieder einmal, ob die Reise eine gute Idee war. „Weihnacht auf der Insel“. Auf jeden Fall war es gut gemeint gewesen von ihren Söhnen, als die beiden sie mit der Anmeldung überrascht hatten. „Damit du nicht so einsam bist“, hatte David ihr gemailt. Sie betrachtete die silbergrauen und strahlendweißen Schöpfe, die über die Lehnen der anderen Sitze ragten und strich sich dezent über ihren schwarzgefärbten Pagenkopf. Welche Leute fuhren im Winter schon zur See? Sie fühlte sich einsamer als zuvor.

Katharina stellte sich ihre Söhne vor: David bei seinem Auslandsstipendium in Amerika, Marten mit seiner Freundin im Schweizer Skiurlaub. Wirklich erwachsen, nicht  wie damals, beim ersten Mal auf der Insel. Da waren sie drei und fünf Jahre alt gewesen, im Kindergarten, und sie selbst gerade Witwe geworden. Ihr ganzes Leben war nur Wochen vorher explodiert und sie, um ihre Liebe und Hoffnung betrogen, hatte jede Faser dafür aufwenden müssen, weiter zu existieren und ihre Kinder durchzubringen. Wie ein Wunder war ihr da die Mutter-Kind-Kur im „Haus am Meer“ erschienen: sich an einen freundlich gedeckten Tisch zu setzen, ohne planen, einkaufen, kochen zu müssen, gemeinsam mit ihren Kindern und anderen Menschen zu essen und nachher noch mit Erwachsenen sprechen zu können …

Veröffentlicht in
„Stärker als der Tod“
Rheinische Druck-und Verlagsgesellschaft
2009