Robert war gerade dabei, sich ein Bier einzuschenken, als seine Familie eintrudelte. Diesmal war es nicht nur der Bruder mit seinen Sprösslingen, sondern auch seine Schwester hatte ihre Tochter eingepackt, und hinten in ihrem Auto war noch Platz für seine Mutter gewesen. Schliesslich war dieser Ort begehrt, ganz im Gegensatz zu der Zweizimmerwohnung in der Stadt, die sie im Winter bewohnten. Wieder klopfte Robert sich im Geiste auf die Schulter, dass er das Sommerhaus am See angemietet hatte, und er sonnte sich in der Bedeutung, die sein Zweitwohnsitz ihm gebracht hatte.
Tante Erin feiert auswärts
„Seid willkommen“, sagte er leichthin und zeigte auf die Gartenmöbel, die auf der grossen Veranda standen. „Nehmt Platz!“
„Die Kinder wollen sofort schwimmen gehen“, sagte seine Schwester Britta und zog ihrer Tochter das Sommerkleidchen aus. Sie stupste sie an, und brav fragte Emma: „Wo ist denn Tante Erin?“
„Die ist noch nicht da“, teilte Robert mit. „Sie hatte nach der Arbeit noch einen Termin.“
„Sie weiss aber doch, dass wir kommen?“ Britta klang etwas mürrisch.
„Natürlich“, versicherte Robert. Nur eine Sekunde lang verzog er das Gesicht.
Ja, Erin war im Bilde. Schliesslich hatten sie sich genau darum gestritten.
„Du weisst, ich mag deine Familie“, hatte sie angefangen. „Und ich weiss auch, wie glücklich du bist, dass sie alle kommen wollen. Aber so, wie es die letzten Male war, geht es nicht weiter.“
Das hatte ihn umgehauen. Es war doch so harmonisch gewesen, die Whiskey-Verkostung mit seinem Bruder oder der schöne Abend mit seiner Mutter und der Schwägerin im Weinlokal, fast auf der anderen Seite des Sees.
„Was hast du denn dagegen?“, hatte er vorsichtig gefragt, und sie hatte geseufzt.
„Was meinst du denn, wo ich da war?“, fragte sie in hilflosem Ton.
„Du?“ Er kratzte sich den Kopf. „Na, du warst hier, mit den Kindern.“
„Eben!“ Sie schüttelte den Kopf. „Glaubst du nicht, dass ich auch mal Bock auf Whiskey oder Wein habe oder einfach mitgehen möchte?“
„Aber einer muss doch bei den Kindern sein. Und das sind doch deine Neffen und deine Nichte.“
Emma hüpfte auf einem Bein in ihrem pinkfarbenen Bikini herum, und auch Noah und Leon pellten sich aus ihren Hosen. „Schwim-men, schwim-men“, stimmten sie einen Chor an, und entnervt stöhnte Roberts Mutter auf.
„Dann gehe ich eben mit zum Wasser“, sagte Britta patzig, „erst mal, damit Ruhe ist.“ Sie setzte sich eine Sonnenbrille auf. „Aber nicht, dass ihr ohne mich losgeht.“
„Ich will das nicht“, hatte Erin klar gesagt. „Immer wenn du Gäste hast, bin ich plötzlich für die Kinder zuständig. Und ich werde noch nicht einmal gefragt.“
„Weil du das so gut kannst …“, begann Robert hilflos.
„Das muss anders laufen, besprich das mit deiner Familie“, hatte sie abschiessend gesagt. „Und überhaupt wäre es gut, Termine erst einmal mit mir abzusprechen. Ich treffe mich nach der Arbeit nämlich mit Karin.“
Roberts Mutter blickte nervös auf ihre Armbanduhr. „Wo bleibt denn deine Frau?“, fragte sie ungeduldig.
„Ach, inzwischen ist es doch lange hell, dann können wir auch später los“, versuchte sein Bruder, sie zu beruhigen.
„Hört mal, da kommt ein Auto, das wird Erin sein“, fügte Robert hinzu. Er verliess die Veranda und ging auf den Wagen zu. „Wwwas …?“ stammelte er leise, bevor er laut ausrief: „Nein, das ist nicht ihr Auto.“
Der fremde Wagen fuhr einen Bogen und hielt an, und Robert erkannte die Kollegin seiner Frau am Steuer.
„Karin, ist was passiert?“, fragte er besorgt, als sie ausstieg.
Sie lachte und öffnete die hintere Tür. „Alles in Ordnung“, sagte sie und Erin lag kichernd auf der Rückbank. Karin reichte ihr einen Arm, an dem sie sich hochziehen konnte. „Wir hatten nur den Eindruck, dass Erin heute nicht mehr fahren sollte“, sagte sie und stützte sie ab, als sie langsam aus dem Wageninneren krabbelte. Erin versuchte sich hinzustellen, schwankte merklich.
„Besser nicht“, meinte sie undeutlich und strahlte alle an. „Gehen ist schon schi-wie-rich genuch“, lallte sie. Dann torkelte sie auf Robert zu.
„Aber ein Gutes hat es“, sagte Karin und winkte. „Jetzt hat sie wieder gute Laune! So, ich fahre dann mal.“