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In die Tüte

In die Tüte

Der alte Mann schiebt seine Füsse vorwärts, langsam, Schritt für Schritt. Sein rechtes Bein schmerzt, wenn er auftritt, seit Wochen schon. Er streicht sich mit der Hand über den Oberschenkel, seine Finger gleiten über die Hose. Keine Erleichterung, es hilft nichts. Trotzdem muss er weiter. Mit der anderen zieht er seinen Karren hinter sich her. Ein Einkaufstrolley mit blau-weiss kariertem Stoff, altmodisch im Muster, aber für ihn ein Geschenk des Himmels. Seitdem muss er nicht mehr alles tragen, wird nicht mehr von der Last seiner Habseligkeiten niedergedrückt.

Es sind nur noch zwei Strassen. Das gibt ihm Hoffnung, treibt ihn an. Wieder ein Schritt, noch einen. Es dauert so quälend lange, aber er hat ja Zeit. Das ist das einzig Gute. Und natürlich ist es auch besser, wenn der Tag strukturiert ist.

Bis vor kurzem hatte er noch ein genaues Schema, wann am Tag er sich wo aufhalten wollte. Günstig war es morgens in der Fussgängerzone, da war immer die Möglichkeit gewesen, von Passanten ein paar Rappen in den Becher zu bekommen. Dann später war die Zeit für die Kumpels, auf den Bänken im Park, mit den täglichen Gesprächen. Schliesslich hatten sie alle den Winter überlebt, mit der Flucht vor der Kälte in die überfüllten Notschlafstellen. Jeder kannte das, wo man ständig aufpassen musste, dass einem die letzte Kostbarkeit wie ein vergilbtes Foto oder erbettelte Münzen nicht unter dem Kopfkissen weggeklaut wurde.

Und mit der ersten Sonne hatte sich alles geändert. Es waren keine Menschen mehr unterwegs, und Wärmestuben und Duschmöglichkeiten gab es nicht mehr. Alles geschlossen. „Bleibt zu Hause“, sagten Plakate, aber was soll man tun, wenn man kein Zuhause hat? Sein Magen knurrt, und der alte Mann schleppt sich weiter.

„Hey, Lutz, auch auf dem Weg?“ Ein Klaps auf seiner Schulter, ein bekanntes Gesicht neben ihm. Der Alte hat die Schulter hochgezogen, entspannt sie jetzt wieder. Der neben ihm ist Georg, dem kann er trauen. Und Fiffi, sein haariger Freund.
„Ja, hab noch nichts gegessen.“
„Da wollen wir mal hoffen, dass was da ist.“ Der andere passt sich seinem Schleichen an.
„Gestern war es gut. Ich hatte Wurst in der Tüte, und ein Brötchen mit Käse. Und einen Schokoriegel.“ Er leckt sich die Lippen.

„Gestern war die Ärztin im Park.“
„Kenne ich nicht.“
„Sie verteilt dort manchmal Getränke und belegte Brote.“
Georg schielt zu dem Hinkebein. „Hat sie sich deinen Fuss angeschaut?“
„Das wollte sie.“ Lutz bleibt stehen. „Sie hat gesagt, dass sie sich Sorgen macht. Weil das Bein so dick ist.“
„Und dann hast du dich nicht untersuchen lassen?“ Georg schüttelt den Kopf.
„Na, wenn ich den Schuh einmal aus habe, kriege ich den doch nicht wieder an.“
„Aber du musst was tun. Du brauchst doch Medizin.“
„Ich habe Angst, dass sie mich in ein Spital schicken will.“

Georg zuckt zusammen. „Da will ich auch nicht hin.“ Er sieht hinunter zu dem dichten Fellbündel neben ihm, das die Aufmerksamkeit bemerkt und bellend an seinem Besitzer hochspringt. „Ne, Fiffi, das kommt nicht in die Tüte!“

Sie sind fast am Gabenzaun angekommen. Dort steigt eine Frau mit bunter Gesichtsmaske aus einem Auto, trägt eine grosse Tasche zum Gitter. Durchsichtige Beutel mit Zetteln drin oder weisse Tüten mit schwarzer Schrift bemalt reihen sich dort auf, und die Frau beginnt, eine weitere anzubringen. Da bemerkt sie die Ankömmlinge.

„Können Sie eine Decke gebrauchen?“, fragt sie freundlich. „Ganz flauschig und frisch gewaschen.“ Lutz schnuppert. Man kann noch den Weichspüler riechen.
Georg schüttelt den Kopf. Sein Blick streift die anderen Pakete, Jacke, Unterhosen für Männer Grösse 6, Socken … An einem Bügel hängt eine leichte Jacke. Keine Lebensmittel. „Haben Sie vielleicht etwas zu essen oder zu trinken?“, fragt er zaghaft.
„Natürlich!“ Sie tippt sich mit der Hand gegen die Stirn. „Die Lunchpakete wollte ich danach aufhängen.“ Sie greift in ihre Tasche und reicht ihm eins. Lutz nähert sich.
„Kommen Sie, dann brauche ich das nicht erst anzuhängen“, sagt sie fröhlich. Sie reicht ihm auch ein Paket, bemerkt sein Hinken. „Oder wollen Sie gleich zwei? Dann brauchen Sie nicht so viel zu laufen?“

Es dauert, bis Lutz und Georg auf einer Bank im Park Rast machen. Gut hat das alles geschmeckt, der Magen fühlt sich wohlig gefüllt an.
„Eine gute Ausbeute“, sagt der Jüngere und wirft Fiffi ein Leckerli entgegen. „Sogar ein bisschen Hundefutter war da. Und die Apfelschorle war ganz lecker.“ Er reibt sich den Bauch. „Nach all dem Essen.“

Lutz beisst noch ein Stück vom Müesliriegel ab und kaut versonnen. „Weisst du, was das Beste ist?“
Georg zuckt mit den Schultern, hält Fiffi noch etwas Futter hin.
„Das war die Nachricht, dass es an der Kirche wieder warmes Essen geben soll. Nächsten Donnerstag! Vielleicht wird es jetzt wieder leichter.“