PureLesung
Wertvolle Lebenszeit

Wertvolle Lebenszeit

Ich hatte mich über den Anruf von Hannes gefreut und war gern auf seinen Vorschlag zu einem Treffen eingegangen. Wir waren seit Jahren befreundet, aber hatten uns seit Monaten nicht mehr gesehen, und wir hatten vor, das Wiedersehen mit einem Spaziergang zu verbinden.

(Foto: Elisha)

Blöd war nur, dass Hannes dabei seinen Hund ausführen wollte. Die süsse „Tequila“, die sich vor Jahren beide Hinterbeine gebrochen hatte, brauchte für ihr Wägelchen einen rollatortauglichen Weg, während ich gern über Stock und Stein stiefelte und allenfalls einem schmalen Reiterpfad folgte. Deshalb verabredeten wir uns für die Zeit nach dem Spaziergang auf einer bestimmten Bank.

Ich war zuerst an der Kreuzung und voller Vorfreude. Mit Hannes taten Gespräche immer gut, und schnell verliessen wir seichten Small Talk und kamen in der Tiefe an. Das war genau das, was ich jetzt brauchte. Nicht nur, dass wir uns seit zwei Jahren mit der Pandemie rumschlugen.
Jetzt war auch noch ein Krieg in Europa ausgebrochen, der mein moralisches Koordinatensystem erschüttert hatte. Ich hatte eine Nachrichtensendung nach der anderen geschaut, und in der Nacht hatte ich von Putin geträumt und von Bombenalarm in einem Keller. Auch jetzt kamen die Bilder wieder in mir hoch.

Ganz bewusst lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf meine Umgebung: das harte Holz der Bank, der blaue Himmel hinter den hohen Bäumen, das Gezwitscher der Vögel … Und ein aufgeregtes Bellen, gefällt von Tapsen und Rollen über den Weg. Und Schritte.
„Tequila!“, rief ich begeistert, und sie schnupperte an meiner Hand und leckte an den Fingern.
„Aus“, versuchte ich einen energischen Ton, streichelte ihr aber gleichzeitig über den Kopf.
„Du verbreitest mehrdeutige Signale, Liane.“ Hannes stand vor mir. Leider nicht allein.
„Schau mal, wen ich getroffen habe“, sagte er und zuckte mit den Schultern.
Neben ihm stand eine Frau, die mir vage bekannt vorkam. War sie nicht auch in der Weiterbildung gewesen, in der ich Hannes kennen gelernt hatte?“
„Beate?“ Ich bemühte mich, nur Erstaunen zum Ausdruck zu bringen. „Das ist ja eine Ewigkeit her.“
„Wir sind durch Zufall aufeinander gestossen. Und als Hannes sagte, dass er dich trifft, bin ich einfach mitgekommen.“
„Hm“, gab ich von mir, noch unschlüssig, wie ich reagieren sollte.

Hannes hielt mir zum Gruss die Faust entgegen, und ich stiess sie mit meiner Faust an und lachte. Dann setzte er sich neben mich, hielt aber Abstand auf der Bank. Schliesslich war die Pandemie noch nicht vorbei. Beate sah uns an, blieb stehen und stellte ihre Tasche ab. Dann kramte sie ihren Tabak hervor und begann, sich eine Zigarette zu drehen.
„Sagt bloss, ihr seid auch so Impffaschisten?“ Sie zündete sich die Zigarette an.
„Was meinst du?“, fragte ich lustlos. In den letzten Monaten hatte ich zu viele Diskussionen geführt.
„Seid ihr auch so Schlafschafe, die alles mitmachen?“
„Nee, nur die vernünftigen Sachen. Abstand halten, Maske tragen und –  ach ja –  auch impfen“, ergriff Hannes das Wort und lachte.
„Igitt!“ Beate blies den Rauch aus, direkt auf mich zu.
Ich wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum und sagte: „Beate, bitte. Nicht hierhin.“
Sie stöhnte, drehte sich aber ein wenig zur Seite.
„Und wahrscheinlich seid ihr auch so NATO-Versteher, und Russland ist der böse Aggressor!“
„Russland nicht“, sagte ich schnell. „Ich habe russische Freunde, die so erschüttert sind wie ich.“
„Verteidigst du etwa einen Diktator, der grundlos in ein Land einfällt?“, fragte Hannes.
„Ach, ich seh schon, mit euch kann man nicht reden.“ Sie nahm ihre Tasche und wandte sich zum Gehen. „Ihr guckt die falschen Medien.“ Sie ging.

„Ist doch gut, wenn man ein so klares Weltbild hat“, sagte Hannes traurig. „Wieder wertvolle Lebenszeit vertan!“
„Zumindest wird sie nicht dieselben Träume haben wie ich“, sagte ich und streichelte weiter die Hündin. „Aber lass uns jetzt die Zeit nutzen. Erzähl mal, wie geht es dir wirklich?“